„Housing first“ – Finnland hat (fast) keine Obdachlosen mehr.

Obdach- und Wohnungslose in Hamburg sterben im Schnitt 30 Jahre früher als „normale“ Bürger: mit 49 Jahren. In der ersten Novemberwoche hat das Hamburger Obdachlosenmagazin Hinz&Kunzt bereits drei Ihrer Verkäufer verloren. An die Kälte. Natürlicher Tod durch Unterkühlung.

Pünktlich zum Stichtag wird in Norderstedt das Winternotprogramm starten. Wir werden das politische Schulterklopfen in den sozialen Medien und Fernsehnachrichten verfolgen können. In Hamburg läuft das Winternotprogramm zwar schon, es konnte die Betroffenen aber nicht abholen. Für die drei Hinz&Künztler kamen die Programme also zu spät oder sie stellten keine vernünftige Alternative zur Straße dar. Um das ganz klar heraus zu stellen: Weder Norderstedt noch Hamburg sind hier besser oder schlechter als andere deutsche Städte! Der zynisch böse Umgang mit Obdachlosen ist ein gesellschaftliches, kein kommunales Problem.

Wie zynisch unsere Gesellschaft mit Obdachlosen umgeht, wird einem klar, wenn man sich einmal umschaut. Wenn man sich zum Beispiel informiert, wie das „Housing first“ Konzept in Finnland funktioniert.

Aber erst ein ganz kleiner Abstecher in die Theorie. In seinem Buch „Utopien für Realisten“ beschreibt Rutger Bregman, dass die Akzeptanz von Obdachlosigkeit durch die Gesellschaft – also de facto die deutsche Realität, von Obdach- und Wohnungslosen erst Unmögliches zu fordern, bevor die Gesellschaft bereit ist, sie zu fördern – deutlich mehr volkswirtschaftlichen Schaden verursachen muss, als Obdach- und Wohnungslose ohne Wenn und Aber finanziell zu unterstützen.

Screenshot des Artikels "Finnland hat es geschafft, dass es so gut wie keine Obdachlosen mehr gibt" auf kontrast.at

Am 12. Novenber 2019 veröffentlichte kontrast.at den Artikel „Finnland hat es geschafft, dass es so gut wie keine Obdachlosen mehr gibt„.

Housing Frist – In Finnland funktioniert es

Finnland hat also den Fordern und Fördern-Ansatz verlassen und damit den täglichen Überlebensdruck von den Schultern der obdachlosen Menschen genommen. Sie bekommen zuerst eine Wohnung – ohne Voraussetzung. Sozialarbeiter helfen bei Anträgen rund um Sozialleistungen und sind Ansprechpartner bei Problemen. Wessen Gedanken nicht mehr um das tägliche Überleben kreisen müssen, kann sich in dieser neuen, sicheren Ausgangslage leichter um einen Job und die Gesundheit kümmern.

In etwa 10 Jahren „Housing First“ wurden 4600 Wohnungen bereitgestellt. Dafür seien 270 Millionen Euro für den Bau, den Ankauf und das Renovieren von Wohnungen ausgegeben worden.

Allerdings, gibt Juha Kaakinen zu bedenken, ist das weit weniger als Obdachlosigkeit selbst kostet. Denn wenn Menschen in Notsituationen sind, gibt es auch häufiger Notfälle: Übergriffe, Verletzungen, Zusammenbrüche. Polizei, Gesundheits- und Justizsystem sind öfter gefordert und auch das kostet Geld.

Kathrin Glösel in kontrast.at

Natürlich werden nicht alle wohnungslosen Menschen durch das Programm erreicht. Persönlich finde ich 80% allerdings sehr beachtlich.

Bei 4 von 5 Personen ist „Housing First“ langfristig wirksam: Sie behalten ihre Wohnung, sind auf Jobsuche und nutzen die Hilfe der SozialarbeiterInnen. In 20 Prozent der Fälle steigen Menschen aus, weil sie bei Freunden oder Verwandten unterkommen – oder weil sie es nicht schaffen, die Miete zu bezahlen. Doch auch in diesem Fall werden sie nicht fallen gelassen. Sie können nochmal um eine Wohnung ansuchen und werden erneut unterstützt, wenn sie das möchten.

Kathrin Glösel in kontrast.at

Wie stark allerdings der Fordern und Fördern-Gedanke in unserer Gesellschaft noch verankert ist, zeigt ein Kommentar zum Artikel:

Ich denke, das ist ein sinnvoller Weg, wenn die betroffenen auch an der Schaffung des Wohnraumes mithelfen. Es gibt überall genügend sanierungsbedüftige Häuser die über ein derartiges Projekt angekauft werden könnten und mit den betroffenen saniert, ergäbe das sicher Sinn !!

Kommentar zum Artikel in kontrast.at

Anmerkungen und Links:

Title Photo by Tapio Haaja on Unsplash