brown wooden table and chairs

Wie die AfD den Beutelsbacher Konsens verdreht

Manchmal reicht ein Sticker, um ein System ins Wanken zu bringen.
„Kein Mensch ist illegal“, „Stoppt Rassismus“ – harmlose Botschaften, könnte man meinen. Für die AfD aber sind sie Anlass für eine Kleine Anfrage im Landtag. Eine Lehrerin soll sich erklären, weil sie diese Aufkleber auf ihrem Schul-iPad trägt. So beginnt der Fall von Simone Weber, den die Krautreporter gemeinsam mit dem ZDF Magazin Royale recherchiert haben.
Was wie ein Missverständnis über ein paar Sticker klingt, folgt einer Strategie: Die AfD versucht, Lehrerinnen und Lehrer einzuschüchtern – und sie benutzt dabei den Begriff „Neutralität“ als Waffe.

Kein Neutralitätsgebot für Lehrkräfte

Rechte Akteur:innen behaupten seit Jahren, Lehrkräfte müssten im Unterricht „politisch neutral“ bleiben. Das klingt zunächst vernünftig – wer will schon Indoktrination im Klassenzimmer?
Aber diese Behauptung ist schlicht falsch. Ein allgemeines Neutralitätsgebot gibt es nicht.

Die Grundlage für politische Bildung in Deutschland ist der Beutelsbacher Konsens. Er stammt aus den 1970er Jahren und wird oft zitiert, aber selten richtig verstanden. Er enthält drei einfache Prinzipien:

  1. Niemand darf im Unterricht indoktriniert oder überwältigt werden.
  2. Was in Politik und Wissenschaft kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
  3. Schüler:innen sollen befähigt werden, ihre eigenen Interessen zu erkennen und politische Handlungsoptionen zu entwickeln.

Von einem Neutralitätsgebot steht dort kein Wort.
Im Gegenteil: Wenn Parteien oder Akteure offen demokratiefeindlich auftreten, müssen Lehrkräfte das benennen.
Wer etwa den Holocaust relativiert oder Menschenrechte in Frage stellt, darf im Unterricht nicht als „eine von vielen Meinungen“ stehenbleiben. Das hat nichts mit Parteilichkeit zu tun, sondern mit dem Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Wie die AfD den Diskurs verschiebt

Gerade diesen Punkt versucht die AfD gezielt zu verwischen.
Sie inszeniert sich als Opfer angeblicher Lehrer-„Hetze“ – und instrumentalisiert demokratische Regeln, um demokratische Bildung zu schwächen. Die Krautreporter haben das in vier Methoden beschrieben, die inzwischen bundesweit zu beobachten sind:

1. Meldeportale

Schüler:innen sollen ihre Lehrkräfte melden, wenn diese sich „zu politisch“ äußern. Dafür gibt es Onlineportale, auf denen Screenshots oder sogar heimliche Audioaufnahmen hochgeladen werden können.
So entsteht ein Klima der Angst. Lehrkräfte erzählen, sie fühlten sich ständig beobachtet. Manche verzichten lieber auf Diskussionen über Rassismus oder Demokratie, um keinen Ärger zu riskieren.
Politikwissenschaftlerinnen wie Gudrun Hentges und Bettina Lösch nennen diese Portale „Formen von Hate Speech“. Sie verletzen den Schulfrieden, fördern Denunziation und zersetzen Vertrauen.

2. Das Bestehen auf Neutralität

In Reden, Social-Media-Clips und Landtagsdebatten wiederholt die AfD mantraartig, Lehrer:innen seien zur politischen Neutralität verpflichtet.
Damit bringt sie radikale Positionen in den öffentlichen Diskurs, als wären sie legitimer Teil einer normalen Debatte. Plötzlich gilt es schon als „Parteinahme“, wenn jemand Rassismus ablehnt oder die AfD wegen ihrer Sprache kritisiert. Viele Schulbehörden greifen die Neutralitätsrhetorik auf – nicht aus Überzeugung, sondern aus Angst vor Konflikten.
Das Ergebnis: Selbst demokratische Bildungsprojekte müssen sich rechtfertigen, warum sie nicht „neutral genug“ seien.

3. Dienstaufsichtsbeschwerden

Auch das ist Teil des Plans: Jede Lehrkraft kann zur Zielscheibe werden. Eine E-Mail reicht.
Die AfD nutzt Dienstaufsichtsbeschwerden systematisch, um Schulaufsichten zu beschäftigen und Betroffene zu verunsichern. Selbst wenn eine Beschwerde am Ende unbegründet ist, bleibt der Schaden: Schulleitungen werden vorsichtiger, Unterrichtsinhalte entschärft.
Ein Schulleiter brachte es auf den Punkt: „Wer keine Dienstaufsichtsbeschwerde hatte, war kein Schulleiter.“

4. Kleine Anfragen

Weil die AfD in fast allen Landtagen vertreten ist, kann sie Kleine Anfragen stellen – ein eigentlich demokratisches Kontrollinstrument.
Doch anstatt Regierungen zu kontrollieren, kontrolliert sie Lehrkräfte. Fahnen mit der Aufschrift „Kein Veedel für Rassismus“, Regenbogenplakate, antirassistische Projekte – alles wird zum Anlass für parlamentarische Nachfragen. Schulen und Ministerien müssen reagieren, Berichte schreiben, Daten liefern. Die Botschaft ist klar: Wir sehen euch.

Wenn Angst den Unterricht verändert

Ich stelle mir vor, wie es wäre, als Lehrer ständig zu überlegen, ob ein Satz, ein Aufkleber, eine Lektüre „zu politisch“ sein könnte. Wie soll man in so einem Klima noch Demokratie lehren? Einige Lehrkräfte sprechen inzwischen von Selbstzensur – nicht, weil sie plötzlich politisch geworden wären, sondern weil sie sich schützen wollen.

Das ist gefährlich.
Denn Schule ist der Ort, an dem junge Menschen lernen sollen, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen, kritisch zu denken und für demokratische Werte einzustehen. Wenn aus Angst vor der AfD bestimmte Themen nicht mehr angesprochen werden, verliert die Gesellschaft ihren Kompass.

Dass dieses Problem längst erkannt ist, zeigte heute (6. Oktober 2025) der Antidiskriminierungstag des Landesbeauftragten für politische Bildung Schleswig-Holstein in Kiel. Unter dem Titel „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entgegentreten“ diskutierten Lehrkräfte, Pädagog:innen und Wissenschaftler:innen, wie man rechtspopulistischen Tendenzen im Schulalltag begegnet.
Im Mittelpunkt stand genau jene Frage, die die AfD bewusst verzerrt: Wie kann man im Unterricht klar Haltung zeigen – menschenrechtsbasiert, demokratisch und ohne in Indoktrination zu verfallen?
Die Botschaft des Fachtages war eindeutig: Schulen dürfen sich nicht hinter vermeintlicher Neutralität verstecken, wenn Grundwerte angegriffen werden.
Neutralität heißt nicht Gleichgültigkeit, sondern Verantwortung.

Warum Haltung keine Parteilichkeit ist

Ich halte es für einen Irrtum, Neutralität mit Gleichgültigkeit zu verwechseln. Lehrkräfte dürfen – nein, sie müssen – klarmachen, wo die Grenzen des Sagbaren verlaufen, wenn Menschenwürde oder Demokratie infrage stehen. Das hat nichts mit Parteipolitik zu tun. Das ist Verfassungsschutz im besten Sinn.

Demokratie braucht Rückgrat

Was wir gerade erleben, ist ein schleichender Versuch, Angst zu säen, wo Mut gebraucht wird.
Die AfD nutzt demokratische Instrumente – Anfragen, Beschwerden, Portale – um demokratische Stimmen mundtot zu machen. Das ist perfide, aber nicht neu: Autoritäre Bewegungen haben immer versucht, Bildung zu kontrollieren, weil Bildung Freiheit bedeutet.

Wir dürfen nicht zulassen, dass Lehrkräfte allein gelassen werden, wenn sie Haltung zeigen.
Sie verteidigen in ihren Klassenzimmern jeden Tag das, was unsere Gesellschaft zusammenhält.

Dieser Beitrag stützt sich auf Informationen aus dem Telegram-Kanal Der rote Faden der Friedrich-Ebert-Stiftung, auf die Recherche von Krautreporter / ZDF Magazin Royale (September 2025) sowie auf den Antidiskriminierungstag des Landesbeauftragten für politische Bildung Schleswig-Holstein (NDR Schleswig-Holstein Magazin) am 6. Oktober 2025.